Dr. Walter Osborn

Arbeitsweise einer therapeutischen Gruppe

Der folgende Text beschreibt ausgewählte Aspekte der Gruppenarbeit, die in all jenen Gruppen wichtig sind, die auf der Grundlage der freien spontanen Kommunikation der Teilnehmer/Innen arbeiten. Der Text gibt darüber hinaus einige Hinweise, wie diese Arbeitsweise den therapeutischen Prozess fördert und wie die Therapeuten den Prozess anleiten.

Das freie Gespräch ist die Basis der therapeutischen Arbeit. Damit die Gruppe therapeutisch wirksam werden kann, ist die Förderung einer spontanen, offenen und authentischen Kommunikation besonders wichtig. Wenn eine Gruppe ihre Arbeit beginnt, bildet die Entfaltung des offenen Gesprächs einen Schwerpunkt. Aber auch im weiteren Verlauf ist die Förderung eines freien Austauschs ein wichtiges therapeutisches Anliegen.

Das freie Gespräch ist die Basis der Problemklärung, es macht problematische Annahmen und Sichtweisen deutlich und fördert deren Neubewertung im gemeinsamen Nachdenken der Gruppe. An die Stelle stummer Gedanken, die im Kopf in sich selbst kreisen, nach dem Motto: ich denke, dass du denkst, tritt die Klärung der Realität, d.h. die Klärung der Frage: sage mir, wie du tatsächlich über diese Sache nachdenkst?

Menschen, die seelische Probleme erleben, vermuten häufig, dass andere besser in ihrem Leben funktionieren und ihr Leben besser im Griff haben. Oft sind sie von dieser Annahme zutiefst überzeugt. Sie befürchten -entsprechend den sozialen Normen der modernen Leistungs- Gesellschaft- nicht zu genügen. Das kann dazu führen, dass die Betroffenen gerade das verbergen, was sie zutiefst innerlich bewegt. Diese Verborgenheit, bewirkt nicht nur, dass das tatsächlich seelische Erleben aus der Kommunikation ausgeschlossen wird. Oft wird das eigene Erleben durch die Verinnerlichung problematischer Wertvorstellungen noch tiefergehend beeinträchtigt. Die Wertvorstellungen werden nämlich gleichsam geschluckt und zu einem inneren Richter umgewandelt, der dann das eigene -vermeintlich unangepasste- Erleben entwertet und verurteilt. Die Betroffenen machen sich entsprechend Selbstvorwürfe, dass etwas an ihrem Verhalten und Erleben falsch ist. Die Selbstvorwürfe treten an die Stelle, der für die seelische Gesundheit notwendigen Selbstfürsorge.

Durch das offene Gespräch erleben die Gruppenteilnehmer, dass die eigenen Sorgen, Vorstellungen und Gefühle von anderen oft ganz ähnlich erlebt werden. Durch diese Erfahrungen entsteht ein Zusammenhalt in der Gruppe, Schamängste werden reduziert, die Selbstakzeptanz wird gefördert und der krankmachende innere Richter kann kritisch hinterfragt werden, so dass Selbstfürsorge an die Stelle von Selbstvorwürfen treten kann.

Die Gruppenleiter unterstützen die Teilnehmer bei dieser Aufgabe, indem sie ihren Beitrag für einen sicheren Rahmen leisten, einen Rahmen, in dem es gefahrlos möglich ist, sich offen auszusprechen. Zu dem sicheren Rahmen gehören: eine strikte Schweigepflicht für alle Teilnehmer, bezogen auf alles was in der Gruppe besprochen wird. Diese Schweigepflicht gilt auch über die Gruppentherapie hinaus. Bei der Zusammenstellung der Gruppe wird besonders darauf geachtet, dass die Teilnehmer/Innen im Alltag anonym bleiben, d.h. keine persönlichen Berührungspunkte haben.

Die Erfahrungen, mit anderen Menschen etwas Wesentliches zu teilen, von anderen Menschen verstanden zu werden, die die eigenen Erfahrungen nicht vom Tisch wischen oder entwerten, schafft Zusammenhalt und fördert ein Gefühl von sozialer Unterstützung. Nach allem, was die Psychotherapieforschung erarbeitet hat, ist soziale Unterstützung eine wesentliche Grundlage, um emotionale Krisen und Herausforderungen konstruktiv zu bewältigen.

Das offene Sprechen über das eigene Erleben bedeutet für alle Menschen, nicht nur für die Gruppenteilnehmer/Innen, dass Hemmschwellen erlebt werden. Diese Hemmschwellen werden in der Therapie als Ausdruck des Selbstschutzes gesehen. Es wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch diesen Selbstschutz benötigt, um ein Gefühl der Kontrolle und Sicherheit aufrecht zu erhalten. Der Selbstschutz wird bezogen auf die therapeutische Veränderungsarbeit aber als ein zweischneidiges Schwert behandelt. Einerseits gewährleistet er das Sicherheitsgefühl, andererseits beeinträchtigt er die Selbstwahrnehmung und behindert die Möglichkeit neue, verändernde Erfahrungen zu machen. Wenn der Selbstschutz rigide aufrecht erhalten wird, können alte Ängste nicht durch neue Erfahrungen geprüft werden.

Indem die Gruppenteilnehmer versuchen, offen über sich zu sprechen, erleben sie zunehmend bewusst, ihr Bedürfnis, sich zu schützen, sie spüren ihre Schwellenängste und lernen, wo und wie sie zugleich durch ihr Sicherheitsbedürfnis vor neuen, verändernden Erfahrungen zurückweichen. Der Selbstschutz wird nicht überrannt. Die damit verbundenen Ängste werden geklärt. Oft zeigt es sich, dass frühere ungünstige, traumatisierende Beziehungserfahrungen die Ängste geschaffen haben, die bis in die Gegenwart nachwirken, dies obwohl die alten Gefahrensituationen heute nicht mehr bestehen.

Im schützenden Rahmen der Gruppe können kleine Schritte versucht werden, die neue Erfahrungen eröffnen. Auch wenn das offene Sprechen eine wesentliche Grundlage der Veränderungsarbeit ist, behält jedes Gruppenmitglied die Kontrolle, indem es bestimmt, wie weit es sich in der Gruppe öffnen will.

Damit das Gruppengespräch im therapeutischen Sinne konstruktiv verläuft, fördern die Gruppenleiter hilfreiche Gesprächsansätze und Bewältigungsstrategien. Seelische Zusammenhänge werden den Teilnehmern der Gruppe und dem Erzähler am ehesten verständlich, wenn das Verhalten sowie die Gedanken und Gefühle spezifisch besprochen werden, d.h. so wie sie in konkreten Situationen auftreten. Denken, Vorstellungen, Fühlen, Verhalten und körperliche Reaktionen bilden eng verbundene Teilstücke des seelischen Geschehens.

Generalisierte allgemeine Aussagen beispielsweise, die von den konkreten Erfahrungen losgelöst gemacht werden, sind i.d.R. wenig klärend und erschweren eine elastische, konstruktive Bewältigung. Generalisierende Aussagen wirken sich oft depressionsverstärkend oder angstauslösend aus, wenn sie negative Statements enthalten. Indem andere Formen des Sprechens eingeführt werden, werden solche Muster des Wahrnehmens und Denkens (Schemata) hinterfragt, differenziert, bzw. unterbrochen.

Die Teilnehmer der Gruppe werden als Menschen gesehen, die durch ihre Lebenserfahrung und ihre Sensibilität das Potenzial besitzen, anderen Menschen wirksam zu helfen. Ein wichtiges Potential in dieser Hinsicht ist die Funktion der Gruppe als ein sozialer Spiegel. Der Spiegel kann auf verschiedene Weise genutzt werden. Zum Beispiel. indem ein Gruppenmitglied um eine Rückmeldung (sog. Feedback) bittet, wie seine Erzählung und sein Verhalten auf andere wirkt. Durch diese Rückspiegelung können z.B. unklare Vorstellungen darüber, was das eigene Verhalten bei anderen Menschen bewirkt, aufgeklärt werden. In der Regel werden die Gruppenteilnehmer feststellen, dass ihre Annahmen darüber wie andere sie sehen, deutlich davon abweichen, was sie sich vorgestellt haben.

Auch wenn die Gruppenteilnehmer in der Regel feststellen, dass sie Vieles gemeinsam haben, werden sie auch wechselseitig Unterschiede erleben. Das sind z.B. unterschiedliche Sichtweisen, unterschiedliche Bewältigungsstrategien, unterschiedliche Haltungen. Die Auseinandersetzung mit diesen Unterschieden, die i.d.R. im konstruktiven Sinne deutlicher hervortreten können, sobald die Gruppe ein ausreichendes Sicherheitsgefühl entwickelt hat, zeigt Spielräume für das eigene Verhalten und Erleben. Ein ängstlich vorsichtiges Gruppenmitglied kann z.B. feststellen, dass ein anderes Gruppenmitglied viel direkter für seine Wünsche eintritt. Es wird deutlich, dass die eigenen Sichtweisen erheblich von den prägenden lebensgeschichtlichen Vorerfahrungen abhängig sind und dass somit auch andere Haltungen, Sichtweisen und Bewältigungsstrategien möglich sind.

Konflikte und Emotionen

Die Gruppentherapie hat eine lange und durchaus bewegte Vorgeschichte, die bis heute in der Gestalt verschiedener gruppentherapeutischer Ansätze und mancher Vorurteile fortwirkt. In den 60er und 70er Jahren haben im Zuge der sog. Encounterbewegung gruppentherapeutische Programme von sich reden gemacht, die teilweise sehr offensiv konfliktgeladene Auseinandersetzungen zwischen den Teilnehmern stimuliert oder die Teilnehmer in ein überschäumendes Gefühlsbad gestürzt haben.

Diese gruppentherapeutische Arbeitsweise hat sich im Laufe der Jahre als wenig hilfreich erwiesen, um seelische Probleme positiv zu verändern. Dennoch befürchten viele Menschen, dass genau das in einer Gruppe auf sie zukommen könnte. Bei dem hier vertretenen Ansatz werden zwischenmenschliche Konflikte als ein Element des menschlichen Lebens betrachtet, sie werden aber keinesfalls durch die Gruppenleiter forciert. Wenn Konflikte dennoch verschärft auftreten, was sehr viel seltener der Fall ist, als man das erwarten mag, bildet die Regulierung der Emotionen das erste Ziel. Konflikte können nur sinnvoll geklärt und bewältigt werden, wenn Ärger so ausgedrückt wird, dass eine konstruktive, wertschätzende Basis erhalten bleibt und kein Gruppemitglied überfordert wird.

Das gilt im Übrigen auch für andere Gefühle. Therapeutische Veränderungen können nur erreicht werden, wenn die Gefühle belebt und einbezogen werden, eine rein verstandesmäßige Betrachtung seelischer Probleme ist therapeutisch nicht wirksam. Gleichzeitig gilt, dass Gefühle nur dann konstruktiv verarbeitet werden können, wenn die emotionale Aktivierung die seelische Verarbeitungsfähigkeit nicht überfordert. Überschießende Ängste beispielsweise engen die Denkfähigkeit erheblich ein. Auf diesem Hintergrund ist die Gruppenarbeit immer darauf ausgerichtet, die Gefühle anzusprechen, aber ohne die emotionale Verarbeitungsfähigkeit zu überschreiten.

In dieser Hinsicht ist die Gruppentherapie ein Training, das sowohl die soziale Kompetenz und Kommunikationsfähigkeit fördert, als auch die Fähigkeit verbessern soll, Emotionen zu regulieren. Emotionen regulieren bedeutet, dass die Teilnehmer/Innen dabei unterstützt werden, ihre Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken aber auch so zu dosieren, dass ein konstruktiver Umgang ermöglicht wird.

Die Rolle der Leiter

Wenn genügend Ressourcen zu Verfügung stehen, wird die Gruppe von zwei Personen geleitet. In diesem Fall wird der eigentliche Gruppenleiter durch einen sog. Gruppenbeobachter unterstützt, der die Gruppengespräche still begleitet und dokumentiert. Der Gruppenbeobachter meldet seine Beobachtungen in gewissen Zeitabständen an die Gruppe zurück und stellt seine Dokumentation für die Formulierung des Problemfokus zur Verfügung.

Der Gruppenleiter hat bei der Gruppenarbeit eine dreifache Aufgabe. 1) Er fördert die Arbeit der Gruppe, so dass ein hilfreiches therapeutisches Milieu entsteht. Die Kennzeichen eines solchen therapeutischen Milieus und einige Ziele, die sich daraus für den Gruppenleiter ergeben, wurden oben bereits dargestellt. 2) Neben der Förderung des therapeutischen Milieus bringt der Gruppenleiter an geeigneten Stellen sein störungsspezifisches Wissen in die Gruppenarbeit ein. Störungsspezifisches Wissen umschreibt das gegenwärtig verfügbare klinisch-psychologische Wissen, das z.B. für die Erklärung und Behandlung von Angst oder Depression bedeutsam ist. 3) Der Gruppenleiter fördert nicht nur die Gruppenarbeit insgesamt (1), sondern unterstützt im laufenden Gruppenprozess auch die jeweils individuellen Teilnehmer/Innen. Diese Unterstützung umfasst die Klärung und Präzisierung eines individuellen Problemfokus und die Unterstützung bei individuellen Veränderungsschritten.